Sonntag, 6. November 1994

New York City Marathon 1994 - Zum 25. Jubiläum im Marathonmekka

Im Central Park nach dem Zieldurchlauf
 des New York City Marathons 1994
Die Begeisterung nach meiner Teilnahme am NYC Marathon 1993 infiziert Gisela. Sie berichtet in ihrem schulischen Umfeld über New York und wird bald von der Nachricht überrascht, dass die Schulleitung Sonderurlaub für ihren Start zum Jubi- läumslauf gewähren würde, wenn sich Kollegen zur Vertretung finden. Einige nette Kollegen bieten großzügig die Vertretung an und schalten damit die Ampel auf Grün.
Der Andrang zum Jubiläumslauf ist riesig. Jörg Bunert, mit dessen Reiseorganisation ich bereits 1993 in New York war, hält den Teilnehmern von 1993 für 1994 eine befristete Buchungsoption frei, die auf Gisela und unseren Freund Werner erweitert wird. Werner möchte in New York sein Marathondebut geben und sich zusammen mit seiner Frau unserer Reise anschließen. Wir freuen uns über die Reise mit unseren Freunden, mit denen wir viele gemeinsame Urlaubs- erfahrungen teilen.  
In Anbetracht unseres Alters können wir keine langfristige Leistungsentwicklung planen und wollen darum 1994 unsere Leistungsgrenzen ausloten. In den Osterferien organisieren wir zusammen mit Juppy, seiner Frau Ana und Wolfgang ein privates Traininglager in Südtirol, das wir auf den Hamburg Marathon ausrichten. Trotz eines Hitzelaufs verbessern wir in unserem jeweils 7. Marathon unsere Zeiten auf 3:25 Std. bzw. 3:11 Std.. In New York wollen wir noch etwas zulegen.
Die Steigerung von Umfang und Intensität unseres Trainings belohnt uns nicht nur mit einer neuen Marathonbestzeit im Frühjahr in Hamburg, sondern auch mit neuen perönlichen Bestzeiten auf den Unterdistanzen über 10 km, 15 km und Halbmarathon. Vor unsere Abreise nach New York zeigt Gisela eine deutlich ansteigende Formkurve, während meine Formkurve abnimmt. Möglicherweise war mein Training doch zu hart oder falsch dosiert. Immerhin sind wir bei unserer Anreise nach New York frei von Verletzungssorgen.

Am Tag vor dem Marathon
Das Wetter kann in New York zu dieser Jahreszeit sehr wechselhaft sein und äußerst unfreundlich werden. Zum Jubiläumsmarathon zeigt sich das Wetter von seiner besten Seite und macht uns mit dem Indian Summer be- kannt. Die morgendliche Läufe durch den Central Park sind jeweils ein Treffen mit Läufern aus aller Welt, die sich fröhlich winkend begegnen. Nach einer Runde um das Reservoir laufen wir auf dem Rückweg durch den Zielbereich, dessen Aufbau in Arbeit ist. Alle Teilnehmer können hier ein großes Buch in Empfang nehmen, das anlässlich des Jubiläums die Geschiche des NYC Marathons in Wort und Bild dokumentiert. Gisela zeigt sich in einer bestechenden Form. Sie geht jedes Tempo mit und strahlt ein ungewöhnliches Selbstbewußtsein aus.


Am Samstagmorgen nehmen wir selbstverständlich am Friendship Run teil, zu dem sich die Läufer wieder am UN-Hauptquartier sammeln. Die Ansprachen würdigen noch einmal Fred Lebow, der so etwas wie der Vater des New York City Marathons war und vor einem Monat wegen eines Hirntumors verstorben ist. Jetzt hat Allan Steinfeld dessen Rolle übernommen.  Allan ist einäugig und trägt über der anderen Augenhöhle eine schwarze Augenklappe, mit der er aus der Distanz gut auszumachen ist. Der kleine Jog durch das sonnige Manhatten mit Tausenden gut gelaunten Läufern  versetzt auch uns in eine euphorische Stimmung.
Die Pasta Party im Restaurant Tavern on the Green ist am Abend wieder mit langen Wartezeiten verbunden, die wir jedoch in Kauf nehmen, weil eine tolle Atmospäre für das Warten entschädigt. Das Fest ist bereitet, jetzt müssen wir unseren Job übernehmen und zwar möglichst so, dass die Feier eine Fortsetzung verdient.

Race Day
Eine frühe Anreise zum Start nach Staten Island ist obligatorisch und bedeutet vor dem Start einen Aufenthalt von mehren Stunden auf dem Gelände von Fort Wadsworth. Das Wetter meint es auch heute gut mit uns und lässt uns in der Sonne verweilen. Wir entscheiden uns für den leichten Renndress und lassen uns fotogra- fieren, ehe wir in die Startaufstellung gehen. 
Gisela startet im Frauenblock auf der unteren Ebene der Verrazano Narrows Bridge, weshalb wir uns heute in unterschiedliche Startblöcke begeben und auch getrennt laufen werden. Da Werner in seinem ersten Marathon keine Zeit vorweisen kann, ist er in einem hinteren Block eingeordnet.

Giselas Marathonlauf
Auf der unteren Brückenebene ist das große Startkino nicht mitzuerleben. Es geht einfach irgendwann los. Eine Tempokontrolle fällt nicht leicht. Verzögerungen des Starts und der Einfluss der Verrazano Bridge wirken sich auf die Zischenzeit aus, die zudem von Meilen auf Kilometer umgerechnet werden müssen. Gemäß Renntaktik hat sich Gisela vorgenommen, auf den ersten 30 km ein Tempo von ca. 8 Minuten/Meile zu laufen. Ab 30 km sollte dann im Rahmen der Möglichkeiten beschleunigt werden. Eine Endzeit von 3:30 Std. erscheint als ein realistisches Ziel.

Gisela fühlt sich gut. Sie läuft erst einmal nach Gefühl und mit ungebremster Lauffreude. Die ersten Meilen sind zwar schneller als vorgesehen, aber das lässt sich ja nachregeln. Bei 10 km liegt Gisela im Bereich ihrer Best- zeit über 10 km, also um 42:00 Minuten. Wenn die Marke richtig steht, würde das auf einen Schnitt von 4:15 Min./km verweisen und auf eine Endzeit unter 3 Std. abzielen. Gisela ist klar, dass dieser Schuss nach hinten losgegehen muss. Sie nimmt nun bewusst Tempo raus und läuft zunächst locker weiter.

An der Rampe zur Queensboro Bridge zeichnet sich das Unvermeidbare ab. Die Lockerheit ist vorbei und das Quälen beginnt. Die Stimmung auf der 1st Ave hilft ein wenig, aber noch sind 15 km zu laufen, die von Marke zu Marke vermeintlich immer länger werden. Jetzt tut es richtig weh und das Zeitpolster schmilzt wie Eis in der Mittagssonne. Dann kommt endlich der Central Park. Die Steigungen, die sie bei den Morgenläufen kaum wahrgenommen hat, werden jetzt zu mächtigen Bergen, die sich ihr bis zur 59. Str. in den Weg stellen. Nun noch die Gerade bis zum Columbus Circle, dann sind es bis zum Ziel noch 400 m. Aber das Ziel verbirgt sich hinter Kurven und hält noch einen schmerzenden Schlussanstieg bereit.

Im Ziel wird Gisela mit 3:27:40 Std. gestoppt und liegt damit nur um 2 Minuten hinter ihrer Bestzeit vom Frühjahr. Das ist aller Ehren wert und bedeutet im Gesamteinlauf Platz 3.348 von 29.735 Finishern (bei 31.129 Startern).

Karlheinz' Marathonlauf
Gemäß Renntaktik war die Anfangsgeschwindigkeit auf 4:30 Min./km bzw. 7:15 Min./Meile ausgelegt, was auf eine Endzeit von 3:10 Std. abzielt. Nach Möglichkeit wollte ich jedoch darunter liegen, wenn ich auf den letzten 10 km noch etwas zulegen kann. Die Befürchtung fehlender Form bestätigt sich jedoch. Von Anfang rollte es überhaupt nicht, und es wird auch nicht besser. Jetzt konnte nur noch Plan B gelten, der die gleichen Zeiten vorsah wie für Gisela.

Nach ca. 10 km mischen sich das Frauen- und Männerfeld. Ich halte nach Gisela Ausschau und hoffe sie zu finden, was natürlich in diesem Läuferfeld eine verwegene Erwartung ist. Tatsächlich war Gisela schon weit vor mir. Heute verlangt der Lauf mir bereits früh meine Leidensfägigkeit ab und schenkt mir bis zuletzt keine Gnade. Am Ende bin ich mit 3:30:30 Std. gerade einmal 16 Sekunden schneller als im Vorjahr, wo ich das Handicap einer Verletzung zu bewältigen hatte. Das ist nicht befriedigend und noch nicht einmal ausreichend, sondern mangelhaft.

Happy End im Central Park
Ohne jede Begeisterung schlendere ich in Richtung des Kleiderbusses, um meinen Kleiderbeutel abzuholen. Auf dem Weg zum Bus traue ich meinen Augen nicht: Gisela geht vor mir in die gleiche Richtung und sieht mich daher zunächst nicht. Ich hole sie ein und wir fallen uns in die Arme. Nachdem wir uns gegenseitig unser Leid berichtet haben, geht es uns schon wieder besser mit Tendenz zur Note Gut. Volunteer am Kleiderbus ist eine nette Lady, die sich spontan anbietet, ein Foto von uns beiden mit unserer Kamera zu machen. Das Foto ist gelungen und ziert heute diesen Post. Danke, Lady!

Nachbemerkungen
  • Werner konnte seinen ersten Marathon mit 3:55:38 Std. finishen. Er hatte sich eine bessere Zeit ausgerechnet (die er in den Folgejahren auch erreichen sollte). Heute befinden wir, dass Werner mit sich völlig zufrieden sein darf und nun erst einmal seinen Erfolg genießen soll. Bei der kleinen Nachfeier unserer Reisegruppe sind wir drei am Abend schon wieder mit dem Schicksal versöhnt. Wir bereuen nichts und freuen uns, an diesem Ereignis teilgenommen zu haben.
  • Gisela ist in der Form ihres Lebens angereist. Mit einer guten Renneinteilung hätte das heute ein großes Ding werden können. Das sollte uns jedoch erst einige Jahre später bewußt werden. Gisela hat jedenfalls aus dieser Lektion gelernt und sich zukünftig auf eine kontrollierte deffensive Renntaktik umgestellt, mit der sie 1997 ihre Bestzeit von 3:21:39 Std. erzielt hat. 
  • Warum es bei Karlheinz so schlecht lief, haben wir nie schlüssig herausgefunden. Die Fehler vermuten wir in der Vorbereitung. Da die Vermutung nicht bestätigt werden konnte, ließ sich aus dem Erlebnis lediglich lernen, dass ein Marathonlauf nicht vollständig planbar ist. Aber das war keine neue Lektion, sondern nur eine Vertiefung bekannter Erfahrungen. Das vermeintlich fehlende Verbesserungspotential auf der Marathondistanz hat Karlheinz dazu bewogen, auf Ultradistanzen umzusteigen und Marathonläufe für die Vorbereitung von Ultrawettbewerben zu nutzen.

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